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Leseprobe „Dämonenbrut“

Veröffentlicht in der Kurzgeschichtensammlung „Expedition“.

Im höchsten Turm der königlichen Burg hat sich das Böse eingenistet und ernährt sich von der Angst der Menschen:

[...] Die Menschen verließen ihre Häuser, liefen zum Fuß der Burg und richteten die Blicke auf die Turmspitze. Gleich würde sich entscheiden, ob ihnen ihr geducktes Leben für eine weitere kurze Frist erhalten blieb. Wenn nicht, würden die Traumvisionen tosend aus den Mauern hervorbrechen, auf sie herabstürzen, sie ergreifen, zerbrechen, ersticken, zerfleischen, sie martern und töten. Alles hing vom König ab. Er war der Unterhändler. Ihm musste es immer neu gelingen, den Fluch zu stunden. Niemand sonst durfte sich der Scherbe im Turm auch nur nähern. 

Einmal hatten die tapfersten Ritter des Reiches versucht, sie aus dem Turm zu entfernen. Als sie jedoch die Hände nach ihr ausstreckten, zuckten Blitze daraus hervor. Augenblicklich loderten die Männer wie Fackeln auf und zerfielen zu Asche. Von da an hatten sich die Bewohner des Königreiches in ihr Schicksal ergeben. 

„Es hat begonnen“, raunte jemand aus der Gruppe junger Männer, bei der auch Roald stand. Der Wolkenvorhang öffnete sich und gab dem Sonnenlicht den Weg frei. Der Turm begann vor Roalds Augen zu flimmern, schien zu vibrieren. Von seiner Spitze ging ein blaues Leuchten aus. Er wird es auch heute schaffen, nichts wird passieren, dachte Roald und wandte sich zum Gehen. 

Die Sonne erhellte mit schmalen Lichtbändern den Raum. Der Rand der Scherbe erstrahlte. Sie begann leise zu zischen. Schnell schwoll das Geräusch an und übertönte das Rauschen des Windes. 

Der König stand wie versteinert. Aus den Poren seiner Stirn sickerte Schweiß, der in den Runzeln seiner Haut dicke Tropfen bildete und zwischen den Brauen zusammenfloss. Gebannt starrte Gramhold auf die Scherbe. Ihre Oberfläche wurde weich und fing scheinbar an zu sieden. Bläschen brodelten aus ihr hervor. Die ersten zerplatzten und entließen übelriechende Dämpfe. Sekunden später jedoch waren sie so zahlreich, dass sie begannen, sich miteinander zu vereinigen. Ein schaumiges Gebilde aus unzähligen Blasen türmte sich auf und wuchs zu einer silbrigen Kugel an. Diese erreichte die Dachbalken, quoll weiter, auf König Gramhold zu. Deutlich konnte er Wolken milchig weißer Schwaden erkennen, die unter ihrer feucht glänzenden Haut entlangzogen. Kurz bevor er von ihr berührt wurde, hielt der König den Atem an und hob die Hände schützend vor sein Gesicht. Er fühlte pulsierende Wärme, spürte, wie sich die breiige Masse hinter seinem Körper schloss und er wie von Strömen flüssigen Quecksilbers umgeben wurde. 

Roalds Heimweg führte durch menschenleere Gassen. Er hatte sein Ziel fast erreicht, als er etwas aus seinem Elternhaus flattern und um die Ecke verschwinden sah. Erst hielt er es für einen Vogel, doch irgendetwas war seltsam an ihm. Roald setzte ihm nach. Mit großen Schritten holte er das fliegende Wesen ein und warf mit einem beherzten Sprung die Hände darüber. 

Vorsichtig betrachtete er seine Beute. Es war ein winziges Menschlein mit filigranen Flügeln, das wild zwischen seinen Fingern zappelte. Es musste eine Elfe sein. Roald hatte noch nie eine gesehen. Er kannte sie nur als Phantasiegebilde schrulliger Legenden, die davon erzählten, dass Elfen einst in guter Nachbarschaft mit den Menschen gelebt hatten. An dem Tag aber, als das Böse sich über das Königreich senkte, seien sie für immer verschwunden. Und nun hatte er ein lebendiges Exemplar gefangen! Im Nachhinein schien es ihm, als habe die Elfe nicht einmal ernsthaft zu entfliehen versucht. Er steckte seinen Fang unter den Mantel und ging ins Haus. 

Die zähe Flüssigkeit perlte von König Gramhold ab und war im nächsten Moment im Boden versickert. Er befand sich in einem von weißem Dunst erfüllten Felsengewölbe. Der König wusste, wohin er zu gehen hatte. Er stieg über drei zerfallene Skelette hinweg, ging tiefer in die Höhle hinein und bog schließlich in einen Seitengang. Modriger Gestank umgab ihn. Wildes Schnaufen näherte sich. Er blieb stehen und erwartete das Untier. 

Schemenhaft erkannte er, wie es sich mit plumpen Bewegungen heranwälzte. Ein Kopf, groß wie ein ausgewachsener Mann, gewann Kontur. Trotz des monströsen Aussehens war sein Gegenüber noch sehr jung. Erst in einigen Jahren würden ihm Flügel wachsen. Der König befand sich im Nest eines Ungeheuers und fürchtete, von der ungelenken Brut verschlungen, zerdrückt oder erschlagen zu werden. 

Die Kreatur war so nah herangekommen, dass Gramhold sein Spiegelbild in den tellergroßen Augen erkennen konnte. Mit zuckenden Nüstern begann es, gierig an ihm zu schnüffeln. Dem König schlug fauliger, von schmierigen Tröpfchen durchsetzter Atem entgegen. Immer wieder schnellte eine blasse Echsenzunge hervor und strich mit ihrer rauen Haut über sein Gesicht. Sie leckte die Rinnsale von der Stirn und König Gramhold trug genug Furcht in sich, sie nicht versiegen zu lassen. 
[...]
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1 Kommentar

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