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Kolibri

Kolibri

In der guten Stube. Auf dem Tisch in der Ecke ein Vogelkäfig. Wellensittich Hansi hockt auf der Schaukel, plustert hin und wieder seine Flügel auf, richtet dann mit dem Schnabel sein Brustgefieder. Gleich daneben, auf der Blumenbank, döst Kater Mauz vor sich hin, den Kopf auf die Pfoten gelegt, den Schwanz an den Körper geschmiegt. Im Sessel neben der Tür, über den Beistelltisch mit der ausgebreiteten Zeitung gebeugt, die Brille auf der Nasenspitze, sitzt Oma Lotte. Nachmittagsidylle. Durch das gekippte Fenster dringen die Geräusche des Hofes herein.

Hansi
Draußen. Was für ein magisches Wort. Dort sitzen sie in den Baumwipfeln, singen und spielen, meine Artgenossen. Flattern durch die Luft, bauen sich Nester, necken einander. Manchmal sehe ich sie, vor der Fensterscheibe, durch die Gitterstäbe meines Käfigs. Übermütig, sorglos, glücklich pflügen sie mit ihren Gefährten durch einen grenzenlosen Himmel.
Und ich? Eingepfercht bin ich. Gefangen. Allein. Futternapf, Tränke und Schaukel, das sind die Symbole meines Daseins. Ich habe keine Hoffnung, jemals etwas anderes zu sehen. Ich kann nicht mehr als Träumen, wehmütig klagen. Die Sehnsucht nach der weiten Welt ist mir zur schmerzlichen Bürde geworden. Es gibt keinen anderen Ort für mich, kein unbekümmertes Leben mit eigenem Nest, Freunden, Abenteuern. So viel Kummer lastet auf meinem kleinen Herzen. Ich kenne die Freiheit nicht.
Na, wenigstens habe ich Kater Mauz zum Reden. Der kennt das Draußen. Mauz, hörst du mich? Da, seine Ohren haben sich aufgerichtet. Erzähle mir was, vom Park, vom Bach, von den Hecken. Vom frohen Leben der Vogelfreunde.

Mauz
Wieder einmal Fernweh? Ein verwöhnter, wehleidiger Vogel bist du. Willst nicht begreifen, wie gut es dir geht. Du hast es warm und sauber, bist satt und sicher. Zufrieden und dankbar solltest du sein, da in deinem goldenen Käfig, wo für alles gesorgt ist und niemand dir etwas anhaben kann. Für die Welt vor dem Fenster, die du so gern erkunden möchtest, sind wir zwei nicht gemacht. Sie ist gefährlich, glaub es mir. Und nun lass mich ein Schläfchen machen.

Hansi
Du hast gut reden. Du darfst hinaus und kehrst jedes Mal wohlbehalten zurück. Komm, erzähl es mir noch einmal. Wie sind sie, die anderen Vögel, mit denen du immer Fangen spielst?

Mauz
Du kennst sie alle bereits. Die Spatzen, die Meisen und die anderen, denen ich auf meinen Streifzügen begegne. Ich habe dir alles schon haarklein beschrieben. Denk dir selber eine Geschichte aus, ich habe keine Lust.
Hm. Obwohl, naja. Warte, lass mich überlegen. Ich habe kürzlich von einem neuen Vogel gehört. Er heißt Kolibri. Sein Bild ist jetzt auf dem Kalender, der in der Küche über meinem Klo hängt. Lotte hat mir alles vorgelesen. Er hat bunte Federn wie du, aber einen viel längeren Schnabel. Vielleicht bist du mit ihm verwandt? Das könnte ich mir vorstellen. Der Kolibri lebt fern von hier, in dichten Wäldern, an deren Bäumen große Blumen wachsen. Der Kolibri trinkt aus diesen Blumen süßen Nektar. Er tanzt vor Glück in der Luft, sobald er diese Köstlichkeit gewittert hat. Dann schlägt er so schnell mit den Flügeln, dass kein Auge ihnen folgen kann. Dadurch kann er auf der Stelle schweben und seinen Kopf im Flug in die Blütenkelche neigen, damit Schnabel und Zunge den Nektar erreichen. Ja, solche Vögel gibt es, draußen in der Welt. Sie wissen nichts von Grenzen, überall finden sie mühelos ihre Nahrung und dann flechten sie sich gemütliche Nester, die von den Zweigen hängen und wie kleine Höhlen sind. Sie bieten ihnen Schutz vor der Kälte im Winter und halten sie trocken bei Regen.

Hansi
Wie schön! Bestimmt kuscheln sie sich abends eng aneinander und singen sich in den Schlaf. Ich kann mir gut vorstellen, ein Kolibri zu sein.

Mauz
Wenn ich es recht bedenke, bist du kein Kolibri. Du bist zu unbeweglich. Stell dir vor, du müsstest den ganzen Tag herumflattern und nach Blumen suchen, um satt zu werden. Und vielleicht wurde jede zweite Blüte, die du findest, bereits von einem anderen Vogel ausgetrunken. Um da zu überleben, braucht es einen ganzen Kerl. Der bist du nicht. Du bist nämlich nicht nur unbeweglich, sondern auch träge und feige.
Du willst wissen, ob du ein Kolibri bist? Finde es heraus. Dafür musst du allerdings mehr tun, als jammern. So oft schon hat dein Käfig offen gestanden. Du traust dich doch nicht einmal ins Zimmer hinaus. Dort ist das Fenster. Du fürchtest dich vor der Freiheit, mir machst du nichts vor.
Nun setz dich wieder auf deine Schaukel und beklage dich ein wenig.

Lotte
Mauz, weg vom Käfig, lass den Hansi in Ruhe. Hat er dir Angst gemacht, mein Piepmatz? Ach je, was ist denn mit dir, was rupfst du dir die Federn von der Brust? Bist du etwa krank? Du schaust doch schon seit Tagen so traurig drein. Langsam mache ich mir Sorgen. Komm, wir machen den Käfig sauber. Und auf geht das Türchen.
Ja, nicht erschrecken, ich mach ganz langsam. Ach, du hüpfst mir auf die Hand? Möchtest du einmal hinaus, durch die Stube fliegen? Dann los. Hui, schau mal, Mauz, was der Hansi kann!
Halt, Mauz, hör sofort auf damit. Hier wird nicht nach Hansi gesprungen. Und die Krallen rein, mein lieber Freund. Komm her, ich bring dich hinaus in den Flur. Hier wartest du Schlingel.
Hansi? Was ist in dich gefahren, du wirfst gleich die Vase um. Ganz ruhig, flieg zur Lampe. Nein, nicht da hinüber, weg vom Fenster. Ich mache es schnell zu. Komm runter vom Fensterrahmen. Um Himmels Willen, Hansi, bleib hier!
Ach du Schreck, ich muss hinunter in den Hof. Ganz schnell, vielleicht erwische ich ihn noch. Der Hansi findet sich doch nicht zurecht. Er wird verhungern. Schnell Platz gemacht, Mauz. Hansi, ich komme!

Habicht
Was ist denn das für ein hübscher Flattermann? Hab ich dich!

(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Miniaturen: Kurze Texte, kleine Ideen, spontane Gedanken.

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1 Kommentar

  1. carolin olivares

    Einfühlsam, noch unterstrichen durch die etwas „unterkühlte“, eher karge Sprache. Nachdenklich stimmend! Ic hglaube, dass du Spaß am Experiment hast und unterschiedlichen Perpsektiven! Gefällt mir.

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