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Leseprobe „Der Mond“

Veröffentlicht in der Kurzgeschichtensammlung „Expedition“.

Nicht der Mond vor dem Fenster trägt die Angst in ein Kinderherz:

[...] 
Der Vater bemerkte, wie sich die Klinke der Wohnzimmertür zögernd bewegte. In den Sessel gesunken, mit einer ausgebreiteten Zeitung auf den Knien, saß er vor dem lautlos geschalteten Fernseher. Er schob seine Lesebrille auf die Nasenspitze und blickte über ihren Rand hinweg auf seine Tochter. Barfuß, in knöchellangem Nachthemd und mit wuscheligem Haar stand sie in der halb geöffneten Tür. 

„Warum schläfst du noch nicht, Prinzessin?“ 

Sie schwieg und blinzelte verschlafen in den hellen Raum. 

„Was gibt es? Hast du schlecht geträumt?“ 

„Ich will nach Hause, Papa.“ 

Genau diesen Satz mochte er nicht. Unwillig runzelte er für einen Augenblick die Stirn, um den kleinen Stich, den er ihm jedes Mal versetzte, abzuschütteln. Doch es war die gängige Sprachregelung seit der Trennung: Eine Woche bei Papa, eine Woche zu Hause. 

„Aber warum denn?“, fragte er betont gelassen. 

„Der Mond“, flüsterte sie. „Papa, der Mond ist so groß.“ 

Er lächelte, obwohl ihm die Unruhe in ihrer Stimme nicht entgangen war. „Na, komm her“, sagte er, legte die Zeitung zur Seite und streckte ihr die Arme entgegen. Mit schnellen Schritten war sie bei ihm und sprang auf seinen Schoß. 

„Hast du das noch nie gesehen? Pass auf. Manchmal funktioniert die Luft wie ein Vergrößerungsglas. Wenn das Wetter genau so ist wie heute, dann kann man den Mond wie durch eine Lupe sehen - und sich alles ganz genau anschauen.“ 

Die Tochter schlang die Arme um seinen Hals und verbarg ihr Gesicht. Er spürte ihren hastigen Atem auf seiner Brust. 

„Du brauchst doch vor dem Mond keine Angst zu haben“, versuchte er sie zu beruhigen und streichelte ihren Rücken. 

Sie schmiegte sich noch enger an ihn. „Aber er wird immer größer. Er fällt herunter!“ 

Er nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und schaute in ihr Gesicht. „Wie kommst du darauf? Der Mond kann nicht herunter fallen. Niemals.“ 

„Doch! Er ist nicht am Himmel festgemacht.“ 

Der Vater war überrascht. Er hatte mit einer Frage nach dem Warum gerechnet, um dann geduldig und vernünftig ihre Angst zu zerstreuen. 

„Nein, fest ist er nicht. Er steht nie still. Er ist immer unterwegs, hat eine Bahn, in der er um die Erde reist. Da kann er nicht heraus.“ 

„Und wenn er geschubst wird?“ 

„Was sollte denn den Mond schubsen können?“ 

„Ein Weltraumstein kann es. So groß wie der, der die Dinosaurier erschlagen hat. Er war hinter dem Mond versteckt und ist jetzt dagegen gestoßen.“ 

Er sah die Erregung in ihren Augen und bereute, ihr eine Gegenfrage gestellt zu haben. Das war ungeschickt, dachte er. So steigerte sie sich nur noch weiter in ihre Fantasien hinein. 

„Hör zu“, begann er erneut. „Der Mond wandert um die Erde und die Erde um die Sonne. Im Kreis. Immerzu. Ein Komet aber kommt geflogen, wie ein geworfener Stein. In hohem Bogen geradeaus. Hinter dem Mond kann er sich nicht verstecken, weil der immer gleich wieder ein Stück weiter rückt. Und es gibt so viele Menschen mit Fernrohren auf der Erde. Die würden ihn rechtzeitig entdecken.“ 

Die Tochter machte sich aus seinen Armen los. Der Vater spürte sofort, dass er erneut einen Fehler gemacht hatte. 

„Siehst du, es kann sein! Die wissen es bestimmt und sagen nichts“, meinte sie trotzig. „Weil sie schuld sind. Sie sind mit ihren Raketen auf den Mond geflogen und jetzt ist er zu schwer und fällt herunter.“ 
[...]
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