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Baby an Bord

Die Straßen sind zum Bersten voll. Die ganze Stadt scheint unterwegs. Alles fährt dem Leben entgegen – oder ihm davon. Zunächst jedoch wird geschlichen. Ich reihe mich ein und fasse mich in Geduld.

Vor mir, auf der zweiten Spur, fährt ein klappriger Kleinwagen mit einem verblassten Sticker am Heck: “Baby an Bord”.

Wie nett, eine junge Familie, denke ich. Mutter, Vater, Kind fahren ins Grüne. Ihre Rostlaube beweist die Ungerechtigkeit der Welt. Das Geld fehlt immer da, wo es am sinnvollsten aufgehoben wäre. Ich erinnere mich gut an die Ebbe in der Kasse, als wir unserem Glück ein Nest bauen wollten. Da spielte der fahrbare Untersatz auch nur eine Nebenrolle und überhaupt: Eine frische Liebe hilft über so manche Unzulänglichkeit hinweg. Nur so einen Warndreieck-Aufkleber, den hatten wir damals nicht. Ich bezweifele sehr, dass er irgendetwas bewirkt. Beulen resultieren selten aus bösem Willen und Rüpel stacheln Warnungen eher noch an. Na, von mir jedenfalls habt ihr nichts zu befürchten, ich halte den Sicherheitsabstand akribisch ein. Vielleicht ist das Bildchen auch keine Warnung, sondern ein Fingerzeig des Stolzes: Schaut alle her, wir haben einen kleinen Erdenbürger gezeugt und fahren ihn hier spazieren. Was der Nachwuchs in der Babyschale wohl macht? Schlafen? Schreien? Spielen?

Blinker an, ich wechsle auf die rechte Spur, schließe auf. Wie ein neugieriger Nachbar hinter der Hecke recke ich den Hals.

Er spielt. Jedoch gänzlich anders als erwartet. Ein praller Knabe klemmt da auf der Rückbank, die Knie gegen den Vordersitz gedrückt, verkabelte Stöpsel in den Ohren und die Augen auf das Handy im Schoß gerichtet. Ein Jüngling bereits, der mich nun bemerkt, mir einen knurrigen Blick schickt und sein Gesicht auf Argwohn stellt.

Ich kann seine Mimik lesen: Ein Fremder glotzt ins Auto! Eindringlingsalarm!

Oh, sorry, das wollte ich nicht. Leider ist der Verkehr so dicht, ich kann mich nicht zurückfallen lassen. Da bin ich also. Und weil der Erstkontakt nun einmal hergestellt ist, lächele ich ein freundlich gemeintes Nicken hinüber. Friedliche Absichten soll er daraus lesen. Ein Zwinkern gefällig?

Der Junge dreht sich weg, ruft etwas nach vorn. Papa, eben noch Augen geradeaus und mit beiden Händen am Steuer, hält Ausschau nach mir. Ein unerwartet alter Mann, der vielleicht sogar ein junger Opa sein könnte. Mama, zumindest sehr wahrscheinlich die Frau des Fahrers, schließt sich an. Ich kann förmlich hören, wie sie darüber orakeln, ob jemand von ihnen mich kennt. Dreimal Nein. Erst fragend, dann zunehmend böse, blicken sie mich an. Alle drei, mit nach vorn drängenden Nasenspitzen.

Ich wende mich ab, würde mich gern aus der Situation entfernen. Doch wir sind zur Nähe verurteilt, der Verkehr steht, der Störenfried bleibt. Ich zwinge mich, unbeteiligt zu wirken. Wegschauen, unbedingt. Doch mit unwiderstehlicher Anziehungskraft wollen meine Augen zurück. Schon rasten unsere Blicke erneut ineinander ein. Ich hilflos, sie empört. Möglicherweise sogar zornig. Nicken? Winken? Wie zeigt man, dass man einer von den Guten ist?

Endlich geht es weiter. In Schleichfahrt nähern wir uns, Fenster an Fenster, einer Kreuzung. Die Ampel steht auf grün, doch lange wird sie es nicht mehr bleiben. Ich bremse ab, mein Nachbar gibt Gas. „Baby an Bord“, kann ich wieder lesen. Die Ampel schaltet um, Papa schaltet hoch. Sein Auto schießt unter dem roten Lämpchen hindurch auf die Kreuzung. Der Blitzer an der Ecke gegenüber flackert auf.

Jetzt habe ich tatsächlich ihren Ausflug teuer und unsere Begegnung unvergesslich gemacht.

(c) Lutz Schafstädt – 2022
Meine Miniaturen: Kurze Texte, kleine Ideen, spontane Gedanken.

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